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Published in: MusikTexte, Zeitschrift fur neue Musik Heft 26. October 1988. Seiten 7-10

Mugam und Aleatorik
Neue Musik in Aserbaidschan


von Tatjana Porwoll

Noch bis vor zwei Jahren nahm die neue aserbaidschanische Musik einen verhältnismäßig bescheidenen Platz im Vergleich mit anderen Kulturen der in der UdSSR lebenden Völker ein. Dafür gab es Ursachen. In den sechziger Jahren stand die aserbaidschanische Komponistenschule an der Spitze der sowjetischen Musikentwicklung. Beispiele dafür waren die Ballettmusiken aus der Feder von Kara Karajew, des Vaters von Faradsch Karajew: Die sieben Schönen , Auf dem Pfad des Donners sowie die sinfonischen Werke von Fikret Amirow. Die siebziger Jahre können im Nachhinein als eine Phase der Stagnation, ja der Krise in der Musikentwicklung bezeichnet werden: Es fehlte an neuen Werken, und es mangelte an Interpreten, die imstande gewesen wären, Werke zeitgenössischer Autoren angemessen aufzuführen. Es gab keinen Raum für Diskussionen und Auseinanderset­zungen über neue Werke. Der Nestor der aserbaidschanischen Komponistenschule, Kara Karajew, ein Schüler von Dmitri Schostakowitsch, der in jungen Jahren zusammen mit ihm des Formalismus bezichtigt wurde, klagte oft darüber. Seiner persönlichen Initiative ist es zu verdanken, daß die bedeutenden Werke der Musik des 20. Jahrhunderts aus den sechziger und siebziger Jahren der aserbaidschanischen Jugend zugänglich wurden. Er organisierte Vorlesungen für Komponisten über Kompositionstechniken der neuen Musik des 20. Jahrhunderts. Er war bestrebt, sein Wissen über die neuesten Werke weiterzugeben. Aber fast alle seine Appelle blieben in offiziellen Musikzirkeln Aserbaidschans ohne Re­sonanz, vielerorts stieß er auf Ablehnung. Zur selben Zeit entstanden bereits die ersten Sinfonien von Gija Kantscheli in Georgien und von Awet Terterjan in Armenien.

Eine Kulturkrise bietet meistens gleichzeitig auch die Chance für einen Neuanfang und flößt Hoffnung auf Erneuerung ein. Nach Karajews Tod 1982 setzten seine Schüler und Anhänger sein Vermächtnis fort, indem sie Kongresse und Plenarsitzungen des aserbaidschanischen Komponistenverbands regelmäßig einberiefen und sich mit den Werken junger Komponisten auseinandersetzten. Ende der siebziger Jahre gründete Kara Karajew das Studentische Kammerorchester des Konservatoriums in Baku. Dieses Orchester wurde als Gegengewicht zu dem der aserbaidschanischen Philharmonie konzipiert, die sich ihrerseits nur der populären Musik des 18. und 19. Jahrhunderts widmete. Längere Zeit leitete der Komponist und Dirigent Oleg Felser dieses Kammerorchester.

Unter seiner Leitung wurden in der UdSSR Fugen und Präludien von Witold Lutoslawski und die Komposition Geste von Piero Renosto uraufgeführt. Felser, 1939 in Baku geboren, studierte am Leningrader Konservatorium bei Boris Arapow, einem Schüler Steinbergs, bei dem auch Dimitri Schostakowitsch sein Studium absolvierte, und später bei Gadschijew in Baku. Seit 1976 lehrt er selbst am Staatlichen Aserbaidschanischen Konservatorium in Baku. Die Mehrzahl seiner Werke sind Instrumentalstücke. So z.B. Sonaten für einzelne Instrumente – Klavier, Violine, Harfe, Orgel –, sowie Quartette und Kammersinfonien.

In seinem Werk Harold again für Kammerorchester und Solobratsche greift er Fragmente von Berlioz' sinfonischer Dichtung Harold in Italien auf. Felsers Werk ist beherrscht von der Ausdruckskraft der Musik Alban Bergs und Alfred Schnittkes. Von beiden ist er maßgeblich beeinflußt. Harold again beginnt mit einem Epigraph Lord Byrons: ... and feel what I can never express – yet can not all conceal.

Beinahe alle Musiker des Kammerorchesters sind gleichzeitig Mitglieder des Staatlichen Sinfonieorchesters der aserbaidschanischen Philharmonie. In letzter Zeit beginnt auch dieses Orchester sich der neuen Musik zuzuwenden. Im Repertoire stehen neuerdings die in den siebziger und Anfang der achtziger Jahre bewußt ignorierten Werke der in dieser Sowjetrepublik beheimateten Komponisten.

Nicht, daß es mit dieser Wende genug wäre – vielmehr tritt das Orchester selbst werbend für die neue Musik ein und reüssiert damit nicht nur in den Konzertsälen Aserbaidschans, sondern auch in den Musikzentren Moskaus und Leningrads.

Dieses Erwachen ist mit dem Namen seines neuen Chefdirigenten Rauf Abdulajew eng verknüpft.

Die Beziehung zwischen dem Sinfonieorchester und dem aserbaidschanischen Publikum ist nicht einfach. Nach uralter Tradition ist die aserbaidschanische Musik monodisch. Jahrhundertelang stand im Zentrum der musikalischen Ausdrucksform die Konzentration und Ausrichtung auf eine einzige melodische Linie. Um so befremdlicher war der Eindruck für die aserbaidschanischen Hörer, gleichzeitig mehrere Interpreten auf verschiedenen Instrumenten spielen zu hören. Zuerst war er betäubt, dann empört und am Ende brach er in Gelächter aus – so beschreibt die zeitgenössische aserbaidschanische Komponistin Frangis Ali-Sade den Eindruck, den das erste Konzert eines Sinfonieorchesters auf ihren Vater – einen Volksmusikanten – gemacht hat.

Es muß erwähnt werden, daß die Entwicklung der aserbaidschanischen Berufsmusik sehr schnell verlaufen ist. In einem halben Jahrhundert hat man sich ganze Epochen neuer musikalischer Strömungen angeeignet: Die erste aserbaidschanische Oper Leila und Medschnun von Useir Gadschibijekow erschien 1908, die ersten Sinfonien wurden in den vierziger Jahren von Kara Karajew und Fikret Amirow geschrieben. Diese Werke brechen noch nicht mit der jahrhundertealten schriftlosen Tradition – dem Mugam. Der Mugam ist ein Genre, ein Tonmodus und eine Darstellungsform in einem Vokal-Instrumentalzyklus, der aus mehreren Stücken oder Teilen besteht.

Anstelle der durch Mehrstimmigkeit geprägten europäischen Musik treten im Mugam magische Melodik, verschiedenartige Rhythmen und philosophische Texte des aserbaidschanischen Klassikers Fisuli auf. Die improvisatorische Darbietung des Mugam vereinigt in sich gegensäzliche Eigenschaften: Dynamik bei der Formentfaltung, Erweiterung des Stimmumfangs und als Antithese der beschauliche, verlangsamte Musikablauf, die allmähliche Vertiefung in eine lyrisch-poetische Welt hinein zur vollkommenen Abgeschiedenheit. Auch nach dem Entstehen der Opern, der Sinfonien und der instrumentalen Kammermusik lebt der Mugam weiter fort, sowohl von alten als auch von jungen Chanendäh (Mugam-Interpreten) dargeboten. Im staatlichen Rundfunk in Baku werden Mugame täglich eineinhalb bis zwei Stunden lang gesendet. Es wird von einem wachsenden Publikumsinteresse an diesen Sendungen berichtet.

Die zeitgenössischen Berufskomponisten verwenden, wenn sie sich dem Mugam widmen, heute die neuesten Kompositionstechniken. Als Beispiel mag ein Stück von Frangis Ali-Sade Gabil-Sajagy, zu deutsch: in Gabils Weise, gelten. Gabil, das ist der Vorname von Gabil Alijew, ist ein zeitgenössischer Interpret von Volksmusik, der die Kemantsche, eine türkische Geige, spielt. Musiker und Musikkritiker fundamentalistischer Richtung lehnen seine Werke als zu neuartig ab, weil er oft in Doppelgriffen spielt und seine Melodien sich durch heftige Sprünge auszeichnen. Andere Musiker wiederum preisen ihn mit Stolz als einen Paganini der Kemantsche. Frangis Ali-Sade, 1947 geboren, eine Schülerin Kara Karajews, ist Musikwissenschaftlerin, Komponistin und Pianistin und unterrichtet heute am Staatlichen Konservatorium in Baku.

Während in Gabil-Sajagy von Frangis Ali-Sade das Neue im Gewand volkstümlicher Traditionen erscheint, wenn auch unter Aneignung der modernen Musiksprache, ist die Musik von Faradsch Karajew anders.

Ist es nicht furchtbar, einsam zu sein? – mit dieser Frage beginnt eines der sinfonischen Werke von Faradsch Karajew. Noch bis 1978 galt der heute führende 1948 geborene aserbaidschanische Komponist als zu avantgardistisch, zu modern. Seine Werke wurden nicht aufgeführt. Das scheint sich nun zu ändern. Im offiziellen Organ des Sowjetischen Komponistenverbands Musikalnaja Schisn ist in diesem Jahr bereits ein Interview mit ihm abgedruckt. Perestroika – also Umgestaltung – beginnt, wenn auch langsam, in das Musikleben der Sowjetunion einzudringen.

Er ist ein Reformer. Seine Musik ist unabhängig von äußeren Merkmalen und auf die gesamte Weltkultur abgestimmt. In Baku geboren, ist er bis heute seiner Heimatstadt verbunden geblieben. 1966 absolvierte er das Staatliche Aserbaidschanische Konservatorium in der Klasse seines Vaters, in der er auch Aspirant, eine Art Assistent, war. In seinem Elternhaus galt seine Aufmerksamkeit seit frühester Kindheit der Musik, und der Wunsch, später einmal Klavier zu spielen und zu komponieren, war folgerichtig. Wo Selbstzufriedenheit aufkommt, dort hört das Schaffen auf erinnert sich Faradsch Karajew der Worte seines Vaters, die er oft zu wiederholen pflegt.

Der Sohn begann früh zu komponieren: Sein erstes Werk – Musik für ein Kammerorchester, Schlagzeug und Orgel – entstand 1966. Aber der Komponist selbst bezeichnete seine 1976 entstandene Sonate für zwei Pianisten als sein erstes Opus. Erst seitdem konnte er sich, wie er heute bescheiden sagt, als Komponist akzeptieren.

Die Sonate entstand unter folgenden Umständen: Eines Abends im Winter, als ich in meinem Landhaus an einer Oper nach einem Stück von Jean Anouilh arbeitete, blätterte ich in einem Buch mit dem Titel fuschkins Don-Juan-Verzeichnis' (über den Einfluß von Puschkins Liebschaften auf sein Schaffen). Plötzlich stieß ich auf eine uns wohl unbe­kanntes Motto zu Puschkins Gedicht Poltawa . Es waren Lord Byrons Worte Ich mag diesen zarten Namen ...

Diese Worte gaben den Anstoß zu vielfältigen Gedankenassoziationen, und in derselben Nacht entstand der vollständige Plan einer Sonate für zwei Pianisten, die gleichzeitig Glokkenspiel und Vibraphon bedienen. Die Partitur enthält keine Themen , keine Rhythmen – alles ist schwankend, bei­nahe schlafwandlerisch. Es ist ein Modell der Ewigkeit musikalischer Zeitdimensionen, des sich Versenkens in die Welt der Töne.

Faradsch Karajew und Edison Denissow 1988 in LeningradViele Werke Karajews sind von der Dichtung des 19. und des 20. Jahrhunderts beeinflußt. Seine Lieblingsdichter sind die Franzosen Rene Char und Jacques Prevert, der Amerikaner Carl Sandburg, der Italiener Giuseppe Ungaretti, der Türke Nazim Hikmet. Gedichte dieser Lyriker bilden die Grundlage des Monodramas Journey to love (Reisen ins Land der Liebe) – so ein Gedichtzyklus des amerikanischen Dichters William Carlos Williams – das ewige Thema der Kunst. Die Texte werden in der Originalsprache verwendet. Das Werk, dessen Musik Elemente von Jazz und Klangfarbenkomposition, von Mugam und Aleatorik enthält, wird von einer Sängerin und von einem eigenartigen Orchester mit drei Klavieren dargeboten. Schallende, undeutliche Schläge scheinen das Rauschen der Zeit zu verkörpern. Das Werk, 1978 enstanden, ist noch nicht uraufgeführt worden. Das gilt übrigens für mehrere Werke von Faradsch Karajew. Für die Musikbiennale 1983 in Zagreb hat er eine Tragikomödie Warten auf Godot nach dem Drama von Samuel Beckett geschrieben. Es ist schwer zu sagen, was es ist, eine Komödie, ein Konzert für vier Interpreten oder ein Happening. Der Hörer kann darüber nur Mutmaßungen anstellen. Denn das Werk war am Abend, bevor das Orchester nach Zagreb fliegen sollte, vom Programm abgesetzt worden. Bis heute ist es unaufgeführt geblieben. Noch 1983 war so etwas möglich.

Nach dem Tod von Faradschs Vater entstand 1982 ein Werk für großes Sinfonieorchester Ich habe mich von Mozart auf der Karlsbrücke verabschiedet und später, 1983, eine Vari­ante für kleines Sinfonieorchester, die Serenade 1791 – das Datum erinnert an Mozarts Tod im gleichen Jahr. Die Erinne­rung an Prag, an eine Stadt, für die Mozart tiefe Zuneigung hegte, die Allusionen an Lacrimosa aus Mozarts Requiem, die Karlsbrücke mit ihren durchs Alter dunkel gewordenen Skulpturen – das sind die Gedankenverknüpfungen, die die Idee, den Titel und die Musik formten.

Die Kritiker gehen in ihrer Einschätzung des Schaffens von Karajew weit auseinander. Die neueren Werke des Komponisten sind immer überraschend, aber auch immer bedeutsam.



Man streitet, man diskutiert darüber und darin offenbart sich das Interesse des Publikums an den Werken dieses aserbaidschanischen Komponisten. Als Mensch ist Faradsch sehr temperamentvoll und energisch. Er ist einer der Begründer der neuen Festspiele, die seit 1986 alle zwei Jahre in Baku unter dem Motto Musik des 20. Jahrhunderts zum Gedenken an Kara Karajew ausgerichtet werden. Die ersten beiden Festspiele wurden zu einem großen Ereignis im Kulturleben von Aserbaidschan.

Bei diesen Festspielen gelangen neben bedeutenden Werken von Arnold Schönberg, John Cage, Anton Webern und Olivier Messiaen auch Werke zeitgenössischer aserbaidschanischer Komponisten zur Aufführung, von Arif Melikow, von Frangis Ali-Sade und von Faradsch Karajew. Zum Abschluß der zweiten Festspiele 1988 erklang die Sinfonie von Faradsch Karajew Tristessa I . Auf einem verstimmten Klavier schlage ich h-Moll und cis-Moll an. So entstand dieses Werk mit der Widmung an meinen Vater, Lehrer und Freund. Als musikalischer Leitfaden dienen drei Klavierpräludien in h-Moll, cis-Moll und A-Dur von Kara Karajew.



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